Türkische Weltsensation

Veröffentlicht am 09.04.2008 in Europa

Das Verfassungsgericht in Ankara hat ein Verbotsverfahren gegen die türkische Regierungspartei eingeleitet.
von Dilek Aydin
Lange Zeit haben die Türken ein wenig neidisch auf ihre Nachbarn geschaut. Auf die Griechen etwa, die die Demokratie, die Philosophie und die Vetternwirtschaft erfunden haben. Oder auf die Russen, die beim Sozialismus und im Weltraumrennen die Nase vorn hatten. Doch nun, da die innovativen Einfälle der Nachbarschaft ein wenig nachgelassen haben, sprüht die schöpfe­rische Kraft der Türken.

Erst im Mai vorigen Jahres lieferte die Armee den originär türkischen Beitrag zum Internet­zeit­alter: den Online-Putsch. Auf dem Höhepunkt der Massenproteste gegen die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten erschien auf der Website des Generalstabs eine Putschdrohung. Bei den vorge­zogenen Neuwahlen erreichte die AKP dennoch einen Triumph und ging fortan selbstbewusster an die Re­gierungsgeschäfte.

Deswegen präsentiert die Türkei nun die nächste Weltsensation: Ein Verbotsverfahren gegen eine Regierungspartei. Zudem verhandelt das Verfassungsgericht darüber, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident Gül und 69 weitere AKP-Politiker auf fünf Jahre jede politische Betätigung zu untersagen.

Mit Parteiverboten sind Erdogan und die Seinen vertraut. Doch die Situation ist heute eine andere als beim Verbot der Wohlfahrtspartei 1998 und deren Nachfolgerin drei Jahre darauf. Zwar kann man diese Urteile dafür kritisieren, die autoritären Verhältnisse verfestigt zu haben. Aber immer­hin beschleunigten sie die Ablösung der jüngeren Kader von der alten Milli-Görüs-Bewegung. Das Ergebnis hieß Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung und ihr Programm war ebenfalls eine Weltneuheit: die Versöhnung des politischen Islams mit der Demokratie.

Für die politische Soziologie des Landes bedeutet die AKP zugleich eine Kampfansage ans Establishment. Und um nichts anderes als diesen Machtkampf zwischen den alten und den neuen Eliten geht es heute. Es war eine Mischung aus Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, Furcht vor den Militärs, innerer Überzeugung und Korrumpierung durch die Macht, die die AKP auf ihren Weg brachte. Mit ihrem Coup d’Etat im rechtsstaatlichen Gewand riskiert das Estab­lish­ment eine abermalige Radikalisierung des politischen Islams. Radikale Bewegungen haben die Macht der Generäle und Bürokraten noch nie ernsthaft bedroht, aber dafür ihre Herrschaft legitimiert. Allein: Es ist ihnen egal. In die EU kommt man so natürlich nicht, doch daran glaubt ohnehin niemand mehr.

Man kann gegen die Abschaffung des Kopftuchverbots an Universitäten, die im Zentrum des Verbotsverfahrens steht, allerlei Ressentiments, aber kaum vernünftige Argumente vortragen. Nicht deswegen wäre die AKP zu kritisieren, sondern weil sie es unterließ, die Kleidungsfreiheit für Studentinnen in eine allgemeine Demokratisierung der Universitäten einzubetten. Sie auf die Einhaltung der demokratischen Spielregeln zu verpflichten wäre ein Fortschritt. Diese Spielregeln zu suspendieren ist ein Rückschritt.

Parsa Marvi Bundestagsabgeordneter vor Ort