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Ortsverein Karlsruhe-Mitte

Verwahrlost waren die Heime

Allgemein

von Guido Sprügel
Wenn man dieser Tage die Zeitungen aufschlägt, findet man viele Berichte über sexuellen Missbrauch und Demütigungen von sogenannten Schutzbefohlenen. Allen voran sehen sich die christ­lichen Kirchen mit Klagen ehemaliger Schüler, Chorknaben oder Konfirmanden überhäuft. Aber auch eine andere Gruppe tritt vermehrt an die Öffentlichkeit: ehemalige Heimkinder. Viele von ihnen erlebten ihr Leid in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Heime, in die sie gesperrt wurden, hatten damals bereits mehrere Jahrzehnte Erfahrung mit der Ausgrenzung und dem Wegschließen von »unerwünschten Elementen«.

Schon seit Jahrhunderten gibt es Ausgrenzungen und Misshandlungen von sogenannten Aso­zialen. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zum ersten Mal versucht, diese Ausgrenzung wissenschaftlich zu begründen und gesetzlich zu verankern. An die Stelle des Gefängnisses sollte bei Kindern und Jugendlichen die »Fürsorgeerziehung« treten. In staatlicher oder kirchlicher Obhut entstanden die ersten Heime. Kinder kamen zu jener Zeit vor allen Dingen aus zweierlei Gründen in ein Heim: Entweder sie waren Waisen oder aber »verwahrlost« oder »von Verwahrlosung bedroht«. Die Heim­unterbringung sollte bei den zuletzt genannten einzig und allein der Disziplinierung dienen. Ihre »Verwahrlosung« wurde auf einen hirnorganischen Defekt zurückgeführt.

Während die klassischen Kinderheime für Waisen mehr Wert auf die Versorgung und Ausbildung der Insassen legten, dienten Erziehungsheime primär der »Besserung«. Der Begriff der »Verwahrlosung« prägte beinahe 90 Jahre lang das Denken und Handeln der zuständigen Behörden und Mitarbeiter. Für die Einweisung musste fortan gar keine Verfehlung vorliegen, es reichte der Verdacht, ein Jugendlicher könnte verwahrlosen. Der Begriff wurde in diesen Jahren nie eindeutig definiert, er diente der willkürlichen Einlieferung von Jugendlichen in Erziehungsheime, wenn sie sich »herumtrieben«, die Schule oder Arbeit verweigerten oder wenn Mädchen »sexuell verwahrlost« waren. Zum Tatbestand der »sexuellen Verwahrlosung« reichte es aus, wenn ein Mädchen eine Nacht nicht zu Hause verbrachte oder aber sexuell missbraucht worden war. Im Fachjargon war es ein »gefallenes Mädchen«.

In der Nazizeit verschärfte sich bekanntlich das Ausmaß des Terrors gegen alle »Asozialen«. Neben den klassischen Erziehungsheimen entstanden Jugend-KZ, in denen Jugendliche eingesperrt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Die Begriffe »Verwahrlosung« oder »von Verwahrlosung bedroht« hatten auch während der Nazizeit und darüber hinaus Bestand. Nach dem Kriegsende gehörte die »Fürsorgeerziehung« zu einem der Bereiche, in denen eine ungebrochene Kontinuität herrschte. Margaretha Cornils, die Direktorin des Mädchenheims Hamburg-Fuhlsbüttel, beschrieb die bei ihr eingewiesenen Gruppen in einem Fachvortrag in den fünfziger Jahren als »Schwachsinnige«, »Substanzarme«, »echte Dirnen« und »echte Diebinnen«. Weder das Vokabular noch das allgemeine Verständnis der Pädagogik gegenüber aufmüpfigen Jugendlichen hatte sich auch nur ansatzweise verändert – und sollte sich auch lange Zeit nach Kriegsende nicht wirklich ändern.

Die Heime der Nachkriegszeit entzogen sich konsequent jeder gesellschaftlichen Entwicklung und konservierten den Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen bis weit hinein in die sechziger Jahre. Auch in der DDR setzten sich solche Traditionen teils bis 1989 fort. Überregional bekannt wurde etwa der Jugendwerkhof Torgau, der besonders repressiv versuchte, Jugendliche wieder auf Linie zu bringen. Als Grund für die Einweisung reichte unangepasstes Verhalten.

In der BRD versuchte 1961 die damalige Bundesregierung gar, das Unrecht schwarz auf weiß in einen Gesetzestext zu gießen. Das Bundessozialgesetz ermöglichte es, »Gefährdete« in einer Anstalt oder einem Heim unterzubringen, wenn »der Gefährdete besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist«. Diese Regelung wurde zwar fünf Jahre später vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz unvereinbar kassiert, eine öffentliche Diskussion darüber fand jedoch nicht statt.

Dies änderte sich erst, als die außerparlamentarische Studentenbewegung sich des Themas annahm. Mit der »Staffelberg-Kampagne« begann im Sommer 1969 eine Phase von Rebellionen gegen die Heimordnung in der Bundesrepublik. Das Heim Staffelberg im hessischen Biedenkopf bot sich für die Aktionen der Studenten an, da der gerade erst entlassene Zögling Peter Brosch seine »Stadtteilbasisgruppe Sachsenhausen« mit Hintergrundinformationen über prügelnde Nonnen und Karzer – das waren Arrestzellen – versorgen konnte. Mehr als 200 Teilnehmer, unter ihnen die späteren RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin, versammelten sich am 28. Juni 1969 vor dem Heim und forderten radikale Reformen. Das »Fanal von Staffelberg« führte zu einer Reihe von Rebellionen in Fürsorgeheimen in Hessen, später in der ganzen BRD.

Die ersten Heimzöglinge flüchteten und fanden in linken Studenten-WGs Unterschlupf. In der Folge bildeten sich in Frankfurt die ersten »Lehrlingskollektive«, in denen die Entflohenen in Wohngemeinschaften zusammenzogen. Für einen Teil der Apo war die Agitation unter »Randgruppen« wie den Insassen der Erziehungsheime das Gebot der Stunde. Sie stützten sich dabei auf die Theorien von Herbert Marcuse, der für die »Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen« revolutionäre Veränderungen einforderte. »Ihre Opposition (ist) revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein« – auf diese Beschreibung Marcuses bezog sich die »Heimkampagne« und versuchte, die Heimkinder zu revolutionieren.

Einige Dutzend geflüchteter Heimzöglinge schlossen sich direkt Andreas Baader, Astrid Proll und Gudrun Ensslin an. Bis zu ihrem endgültigen Abtauchen in die Illegalität im November 1969 widmeten sich die drei »Kaufhausbrandstifter« der politischen Agitation und politischen Aktionen rund um die Erziehungsheime. Und auch die linke Journalistin Ulrike Meinhof beschäftigte sich bis zur Entstehung der RAF intensiv mit der Repression in deutschen Heimen. Im ersten Halbjahr 1969 begann sie ihre Arbeiten an dem Film »Bambule«, der in einem Erziehungsheim für Mädchen spielt und deren Widerstand gegen den Heimterror zum Thema macht. Ein Jahr später sollte der Film in der ARD gezeigt werden, doch dazu kam es nicht mehr. Ulrike Meinhof war nach der gewaltsamen Befreiung des inhaftierten Andreas Baader in die Illegalität abgetaucht. Der Film verschwand danach für Jahrzehnte in den Archiven der ARD. Den Film einer Terroristin wollte man nicht senden.

Ein Jahr nach ihrer Gründung erinnerte die RAF in einem Aufruf noch einmal an die Heimkampagne: »Die proletarischen Jugendlichen in den Heimen (…) sie werden die Aktion der RAF verstehen.« Zugleich warnte sie die Behörden davor, die Repressalien zu verschärfen. »Die Guerilla wird die Fürsorger, die die proletarische Jugend mit der ›Heimerziehung‹ terrorisieren, nicht ungeschoren lassen.« Einige ehemalige Fürsorgezöglinge wie Peter-Jürgen Boock schlossen sich später der RAF an.

In den Heimen in Deutschland veränderte sich durch die Aktionen der Apo einiges zum Besseren. Zum ersten Mal gab es eine öffentliche Diskussion um die staatliche Praxis der »Fürsorge­erziehung«. In vielen Heimen wurde jedoch noch lange weiter geschlagen und gedemütigt. Die »Verwahrlosung« und ihre jeweilige Definition und Auslegung prägte die Praxis der Erziehungshilfe bis zur Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahre 1991.

Es ist erstaunlich, dass heute, nach 40 Jahren, ehemalige Heimkinder immer noch um die Anerkennung ihrer Leiden kämpfen müssen. An diesem Punkt, so mag man meinen, war die Gesellschaft schon einmal weiter.

 
 

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